GEAS-Reform: Kinderrechte dürfen an der Grenze nicht enden
Zum Internationalen Tag der Kinderrechte richten sich die Kinderrechtsbeauftragten aus Sachsen, Susann Rüthrich, Brandenburg, Kathrin Krumrey, und Hessen, Miriam Zeleke, mit einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit bezüglich der vorgesehenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Sie sehen die Gefahr, dass wesentliche Schutzstandards für Kinder geschwächt werden könnten, erkennen zugleich jedoch auch Möglichkeiten, die Kinderrechte im europäischen Asylrecht weiter zu stärken.
Mit Stand Oktober 2025 waren 44,6 Prozent der Menschen, die einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, Kinder. Die meisten von ihnen leben aktuell bis zu maximal sechs Monaten in Erstaufnahmeeinrichtungen. Im Zuge der Umsetzung der GEAS-Reform in nationales Recht sieht der Bundesgesetzgeber nun in bestimmten Fällen eine Aufenthaltsdauer von bis zu zwölf Monaten für Kinder und ihre Familienangehörigen in einer Erstaufnahmeeinrichtung vor – ohne Not, denn diese Neuregelung geht über die GEAS-Vorgaben hinaus und ist kein Bestandteil der EU-Reform. Gleichzeitig werden in Umsetzung der GEAS-Reform Bewegungsfreiheitsbeschränkungen sowie die Inhaftierung von schutzsuchenden Kindern möglich.
Die Beauftragten betonen: Kinderrechte sind universell – sie enden nicht an den Außengrenzen Europas. Die Reform des GEAS berührt grundlegende Fragen des europäischen Selbstverständnisses. Sie entscheidet darüber, ob Kinder an den Grenzen Europas als Schutzsuchende mit eigenen Rechten anerkannt werden oder lediglich als Begleitpersonen im Asylverfahren ihrer Eltern gelten.
Mit der neuen Aufnahmerichtlinie (EU) 2024/1346 werden verbindliche Mindeststandards weiterentwickelt und gestärkt, die das Wohl der Kinder ausdrücklich in den Mittelpunkt stellen. Besonders positiv ist, dass minderjährige Asylsuchende künftig spätestens zwei Monate nach Antragstellung denselben Zugang zu Bildung erhalten sollen wie inländische Kinder. Zudem sind die Mitgliedstaaten nach Art. 22 Abs. 2 RL 2024/1346 verpflichtet, sicherzustellen, dass minderjährige Kinder von Antragstellern dieselbe Art von Gesundheitsversorgung erhalten wie ihre einheimischen Altersgenossen. Diese medizinische Versorgung soll ohne Unterbrechung fortgeführt werden, auch wenn der oder die Minderjährige volljährig wird. Darüber hinaus verpflichten die Regelungen die Mitgliedstaaten dazu, eine kindgerechte Unterbringung, Freizeitangebote, psychosoziale Unterstützung sowie die frühzeitige Identifizierung besonderer Schutzbedarfe sicherzustellen. Diese Vorgaben orientieren sich unmittelbar an der UN-Kinderrechtskonvention und stellen einen bedeutenden Ausbau bereits bestehender nationaler Schutzstandards dar.
Gleichzeitig bleiben zentrale Aspekte der Reform kritisch zu betrachten. Die geplanten Grenzverfahren bergen das Risiko, dass Kinder wochen- oder monatelang in haftähnlichen Einrichtungen untergebracht werden – ohne geeigneten Zugang zu Bildung, Teilhabe und rechtlicher Vertretung. Zwar ist der Zugang im Grenzverfahren formal geregelt, in der Praxis bleibt jedoch unklar, wie dieser gewährleistet wird, sodass erhebliche Zweifel an einer kindgerechten Umsetzung bestehen. Dies könnte dazu führen, dass die Umsetzung der GEAS-Reform in nationales Recht mit den Verpflichtungen aus der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 3, 12, 28, 37) in Konflikt gerät. Auch das aktuelle Gutachten von Hruschka und Nestler (2025) warnt davor, dass der Vorrang des Kindeswohls und das Recht auf Bildung „in der Praxis leicht unterlaufen werden könnten, wenn Verfahren beschleunigt, aber nicht kindgerecht gestaltet werden“.
Die Analyse von Constanze Janda (ZAR 2025) weist zudem darauf hin, dass die neuen EU-Vorgaben eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Praxis erfordern: Bildung muss künftig im Rahmen des regulären Schulsystems erfolgen und darf nicht in separaten oder temporären Übergangsmodellen stattfinden. Dies stellt einen Paradigmenwechsel dar, der die Mitgliedstaaten – und somit auch die Länder – verpflichtet, ihre Schulgesetze und Beschulungspraxis anzupassen.
In Hessen und anderen Ländern bedeutet dies konkret: Auch Kinder, die sich in Erstaufnahmeeinrichtungen befinden, müssen spätestens zwei Monate nach der Asylantragstellung Zugang zu regulären Schulen erhalten. Unterricht in Einrichtungsklassen oder parallelen Systemen ist nur noch in Ausnahmefällen und für maximal einen Monat zulässig.
Das Potenzial der Reform liegt in der Weiterentwicklung bestehender Verpflichtungen und der Verknüpfung von Anspruch und Verantwortung. Die neue Richtlinie baut bestehende Vorgaben gemäß den Belangen des Kindes aus und konkretisiert diese verbindlich im europäischen Asylrecht (vgl. Art. 26 RL (EU) 2024/1346). Dadurch wird ein Prinzip aus der Kinderrechtskonvention – das bisher oft nur programmatisch geblieben ist – zu einer konkreten rechtlichen Vorgabe. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass Kinder künftig nicht nur Zugang zu Bildung erhalten sollen, sondern Bildung in gleicher Qualität wie inländische Kinder. Ergänzend werden kindgerechte Informationen über Verfahren, familienähnliche Unterbringung, das Recht auf Freizeit und Entwicklung, die qualifizierte Vertretung unbegleiteter Minderjähriger sowie die medizinische Versorgung auf gleichem Niveau wie für inländische Kinder weiter gestärkt.
Diese Fortschritte sind keineswegs selbstverständlich. Sie zeigen jedoch, dass Europa bereit ist zu lernen, wenn es Kinderrechte nicht als Hindernis, sondern als Maßstab begreift. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems kann entweder ein Instrument der Abschottung sein oder den Wendepunkt markieren hin zu einem menschenrechtsbasierten Schutzsystem. Ob diese Reform tatsächlich einen positiven Wandel bringt, hängt davon ab, wie ernst die Mitgliedstaaten ihre Verantwortung für Kinderrechte nehmen.
Die Beauftragten appellieren an Bund und Länder, den Vorrang des Kindeswohls nicht nur anzuerkennen, sondern auch praktisch umzusetzen. Sie fordern obligatorische Kindeswohlprüfungen in allen Asyl- und Aufnahmeverfahren, eine verbindliche Schulpflicht ab Antragstellung, das Verbot haftähnlicher Unterbringung für Familien mit Kindern, eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zur Umsetzung des Zugangs zur Bildung Minderjähriger gemäß Artikel 16 der Aufnahmerichtlinie, regelmäßige Folgenabschätzungen zu Kinderrechten bei migrations- und asylrechtlichen Gesetzesvorhaben sowie die Einführung unabhängiger Kindervertretungen in Asylverfahren.
Kinderrechte dürfen nicht als Anhängsel des Asylrechts betrachtet werden, sondern müssen dessen Maßstab sein. Wie wir mit Kindern umgehen, offenbart, was Europa tatsächlich verteidigt: Menschenwürde, Schutz und Teilhabe. Bildung ist kein Privileg, sondern ein Grundrecht, das jedem Kind zusteht – unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus.
Europa steht an einem Scheideweg: Es kann entweder eine Politik der Abschottung fortsetzen oder seiner Verpflichtung gerecht werden, dass Menschenrechte bei den Jüngsten beginnen. Die Umsetzung der GEAS-Reform wird damit zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit europäischer Werte. Wird der Vorrang des Kindeswohls ernst genommen, können Asylverfahren sowohl kindgerechter als auch effizienter und rechtskonformer gestaltet werden. Anderenfalls droht ein Rückfall in eine Politik der Ausgrenzung, die zentrale Werte Europas erodiert.
Kinderrechte sind keine bloßen Zusätze internationaler Verpflichtungen – sie sind deren moralische und rechtliche Grundlage. Die GEAS-Reform bietet die Chance, das europäische Asylsystem aus der Perspektive des Schutzes der Schwächsten weiterzuentwickeln – durch Bildung, Partizipation und würdige Aufnahmebedingungen. Unser Umgang mit Kindern ist ein Spiegelbild dessen, was Europa zu sein behauptet.
Quellen:
Constanze Janda (2025): Die Umsetzung der GEAS-Reform – Handlungsbedarf beim Zugang zur Schulbildung, ZAR 5–6/2025, S. 201f.
Constantin Hruschka / Robert Nestler (2025): Gutachten Kinderrechtliche Aspekte der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, Juni 2025, Deutschland.
Richtlinie (EU) 2024/1346 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Art. 16, 20, 22,26).
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen, Ausgabe Oktober 2025.