v.l. Prof. Dr. Helga Seel Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V., Rika Esser Beauftragte der Hessischen Landesregierung für Menschen mit Behinderungen und Jürgen Dusel Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen

Inklusive Gesundheit und Pflege

Auf ihrem 65. Treffen am 11. und 12. Mai 2023 in Bad Nauheim haben die Konferenz der Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen und die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) die „Bad Nauheimer Erklärung“ verabschiedet. In dieser fordern sie mehr Anstrengungen für ein inklusives Gesundheits- und Pflegesystem. Lesen Sie nachfolgend die gesamte Erklärung.

Lesedauer:10 Minuten

Präambel

Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Artikel 25 (Gesundheit) dazu verpflichtet, das „erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ zu gewährleisten. Dies bedeutet, dass der Zugang zur allgemeinen Gesundheitsversorgung inklusiv und barrierefrei gestaltet sein muss und Angebote bereitgestellt werden, die „Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderung“ benötigen. Weiterhin hat sich Deutschland mit Artikel 26 (Habilitation und Rehabilitation) verpflichtet, die Zugänge zu medizinischer Rehabilitation mit dem Ziel zu gewährleisten, Menschen mit Behinderungen ein Höchstmaß an Unabhängigkeit sowie umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten zu ermöglichen. Dies gilt auch für geflüchtete Menschen.

Die Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen haben sich auf ihrer 65. Konferenz in Bad Nauheim am 11. und 12. Mai 2023 mit der Umsetzung dieser menschenrechtlichen Vorgaben befasst und leiten folgende Forderungen ab:

Anforderungen an ein inklusives Gesundheits- und Pflegewesen (Art. 25 a UN-BRK)

Gesundheitliche und pflegerische Versorgung als Daseinsvorsorge sicherstellen

Die Verantwortung für die Sicherstellung einer bedarfsgerechten gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung obliegt dem Staat im Rahmen seiner Daseinsvorsorge. Insbesondere angesichts der sich zuspitzenden Krise der Personalversorgung müssen Bund und Länder mehr finanzielle Mittel bereitstellen, um dieser nachzukommen.

Realisierung des Aktionsplans „Inklusives Gesundheitswesen“ der Bundesregierung

Die Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, bis Ende 2022 einen Aktionsplan für ein „diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen“ mit den Beteiligten zu erarbeiten (Koalitionsvertrag 2021 - 2025, S. 85). Dies ist bislang noch nicht geschehen. Die Beauftragten fordern daher, dass:

  • der o.g. Aktionsplan unverzüglich realisiert wird. Voraussetzung für das Gelingen ist, dass der Prozess umfassend und partizipativ gestaltet wird, d.h. die Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen von Beginn an einbezogen werden.

Zugang zum Gesundheits- und Rehabilitationssystem

Aufgrund baulicher, kommunikativer oder einstellungsbedingter Barrieren ist der Zugang von Menschen mit verschiedenen Behinderungen (körperlich, intellektuell, psychisch und sinnesbeeinträchtigte Menschen) zum deutschen Gesundheitssystem in vielerlei Hinsicht erschwert (Vgl. Susanne Bartig (et al): Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung.Öffnet sich in einem neuen Fenster Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin 2021. S. 41-50).

In Deutschland gibt es z.B. rund 200.000 Arzt- und Therapiepraxen. Doch über 80 Prozent davon sind für Menschen mit Behinderungen nicht oder nur eingeschränkt zugänglich und nutzbar (Vgl. Nadine Lormis: Barrierefreie Arztpraxen sind in Deutschland MangelwareÖffnet sich in einem neuen Fenster. Artikel auf rehacare.de vom 01.06.2017. Abgerufen am 12.05.2023). Die Beauftragten fordern daher:

  • einheitliche und verlässliche Informationen über den Stand der Barrierefreiheit von Praxen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen, wie es bereits seit 2020 gesetzlich vorgesehen ist (§ 75 Abs. 1a S. 2 SGB V).
  • die Einführung einer über die bereits bestehenden rechtlichen Vorgaben hinausgehende gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit in allen Arzt- und Therapiepraxen in dieser Legislaturperiode. Die Schaffung barrierefreier Strukturen muss bei Neuzulassung, Übernahmen und Umbau verpflichtend sein sowie flankierend von Bund und Ländern gefördert werden. Dies beinhaltet auch die kommunikative Barrierefreiheit (z.B. Deutsche Gebärdensprache, Leichte Sprache) sowie die barrierefreie Erreichbarkeit der Praxen mit dem ÖPNV.
  • dass die Ärzteschaft dazu verpflichtet wird, immobile Patientinnen und Patienten zu Hause zu versorgen.
  • die flächendeckende Verankerung der Verpflichtung der Krankenhäuser zur Barrierefreiheit in den Landeskrankenhausgesetzen.
  • den Auf- und Ausbau der mobilen Rehabilitation.

Menschen mit schweren Verletzungen erhalten in der Regel eine gute Behandlung im Akutkrankenhaus. Sie sind danach meist noch zu beeinträchtigt, um ohne weitere Hilfen eine Rehabilitation zu beginnen. Wenn die Betroffenen deshalb nach Hause oder in eine Pflegeeinrichtung anstatt in eine Reha-Einrichtung entlassen werden, sind wertvolle Chancen für eine bestmögliche Teilhabe vertan. Die Beauftragten fordern daher:

  • Der Zugang zu Rehabilitationsleistungen für schwer verletzte Menschen muss verbessert werden. Dafür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, insbesondere durch Anpassung der Definition der Rehabilitationsfähigkeit und Gewährleistung der erforderlichen Unterstützung in den Rehabilitationsstrukturen.

Inklusion in Lehre und Forschung verankern

Ganz aktuell hat auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem Triage-Urteil vom 16. Dezember 2021 festgestellt, dass zu wenig Kenntnisse über die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen im Medizinsystem vermittelt werden und Stereotype die Gefahr von Diskriminierung bergen. Daher weist das Bundesverfassungsgericht auf die Notwendigkeit der Aus- und Fortbildung für das medizinische und therapeutische Fachpersonal hin, was in der Umsetzung des Urteils im Bundesinfektionsschutzgesetz nicht aufgenommen wurde. Wir fordern dringend, Aus- und Fortbildungen und die Verankerung in den Curricula und Prüfungsordnungen für diesen Bereich verbindlich zu regeln.

Um ein inklusives und barrierefreies Gesundheitssystem zu schaffen, brauchen wir zudem die Expertise aus Forschung und Lehre. Die Beauftragten fordern daher die Einrichtung von 16 Professuren für inklusive Medizin, damit in jedem Bundesland eine Verankerung an den Hochschulen gewährleistet wird.

  • Nur wenige Menschen mit Behinderungen ergreifen und absolvieren ein Medizinstudium oder eine andere Ausbildung im Gesundheitsbereich. Dies wäre jedoch wichtig, um die Bewusstseinsbildung im medizinischen Sektor zu fördern und positive Rollenvorbilder zu schaffen. Die Beauftragten fordern daher eine Novellierung der Approbationsordnung für die Ärzteschaft mit dem Ziel, das Medizinstudium durch eine flexiblere Studiengestaltung für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen und einen umfassenden Anspruch auf angemessene Nachteilsausgleiche in allen Phasen des Studiums und der praktischen Ausbildung sowie bei allen Prüfungen (inkl. der Kenntnis- und Eignungsprüfungen für die Ärzteschaft) zu verankern.

Anforderungen an die spezifische Gesundheits- und Pflegeversorgung für Menschen mit Behinderungen (Art. 25 b UN-BRK)

Flächendeckender Ausbau von spezifischen Angeboten für Menschen mit Behinderungen

  • Die Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) und die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) sind wichtige Bestandteile der medizinischen Versorgung und müssen zügig, flächendeckend und bedarfsgerecht ausgebaut werden, damit eine wohnortnahe Versorgung gewährleistet ist. Die Übergänge von SPZ zu MZEB müssen nahtlos erfolgen. Die Zulassungsvoraussetzungen und Behandlungen für Menschen mit Behinderungen müssen ohne Beschränkungen (etwa Grad der Behinderung ab 70 oder Merkzeichen) i.S.v. § 119c SGB V umgesetzt werden.
  • Bestehende Versorgungslücken müssen systematisch erhoben und in dieser Legislaturperiode geschlossen werden, wie bspw. die gynäkologische und urologische Versorgung oder die psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit körperlichen und kognitiven Behinderungen.
  • Der flächendeckende Auf- und Ausbau der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege (pHKP) muss in Angriff genommen werden.

Sachgerechte Ausweitung der Begleitung (Assistenz) im Krankenhaus

Die Beauftragten begrüßen, dass zum 1. November 2022 eine neue Regelung zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen bei Krankenhausaufenthalten in Kraft getreten ist. Die Regelung geht jedoch nicht weit genug, da sie bei Weitem nicht alle Personen umfasst, die dringend Unterstützung benötigen. Zudem wird bisher nur die Unterstützung im kommunikativen Bereich abgedeckt. Die Beauftragten fordern daher:

  • Die Unterstützung in der Kommunikation muss auch die Finanzierung von Online- Dolmetschung in Deutsche Gebärdensprache und in Leichte Sprache umfassen.
  • Die Regelung muss auf Menschen mit hohem kommunikativen und pflegerischen Unterstützungsbedarf ausgedehnt werden, die keine Eingliederungshilfe beziehen oder keine nahen Angehörigen haben.
  • Zudem muss auch die medizinische und pflegerische Versorgung von Menschen mit komplexen Bedarfen (z.B. mehrfachbehinderte oder multimorbide Patientinnen und Patienten) einbezogen werden, da diese im Rahmen der Regelversorgung in Krankenhäusern kaum mehr adäquat geleistet werden kann.

Gewährleistung pflegerischer Versorgung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe

Die Regelung zur bedarfsgerechten Finanzierung der pflegerischen Versorgung in der Eingliederungshilfe darf nicht länger verzögert werden, da immer mehr Menschen mit Behinderungen älter werden. Die Beauftragten fordern daher:

  • dass die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode eine Lösung erarbeitet, die die auskömmliche Finanzierung der Pflegeleistungen beinhaltet und gewährleistet, damit die pflegebedürftigen Menschen in ihrem gewählten Wohnumfeld verbleiben können.

Zuverlässige Gewährleistung von häuslicher Intensivpflege

Das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) hat strengere Anforderungen an die Erbringung von Intensivpflege definiert, die in der Außerklinischen Intensivpflege-Richtlinie (AKI-RL) konkretisiert wurden. Die Übergangsregelung läuft zum 30. Oktober 2023 aus. Trotz Nachbesserungen der Richtlinie bestehen weiterhin Bedenken, dass durch die enormen Anforderungen an die Verordnung und Genehmigung so hohe Hürden geschaffen werden, dass die betroffenen Menschen die benötigte Pflege zu Hause nicht mehr beantragen können. Die Beauftragten fordern daher:

  • Es ist vor dem Auslaufen der Übergangsregelung sicherzustellen, dass genügend qualifizierte Medizinerinnen und Mediziner zur Verfügung stehen, um eine nahtlose Versorgung der Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Informationen müssen den Versicherten zeitnah und niederschwellig bereitgestellt werden. Sollte dies nicht möglich sein, ist die Übergangsregelung zu verlängern.
  • Unnötige Mehrfachbegutachtungen müssen vermieden werden, bspw. bei Menschen mit progredienten Erkrankungen.
  • Die Versorgung von Versicherten, die sich für selbstbeschafftes Personal (Arbeitgebermodell) entscheiden, muss auch künftig gesichert bleiben.

 

Bad Nauheim, 12. Mai 2023

 

Die Bad Nauheimer Erklärung steht Ihnen nachfolgend jeweils als barrierefreies PDF in schwerer Sprache und in leichter Sprache zum Download bereit.