Zehn Jahre nach Verabschiedung der „Mainzer Erklärung zur Inklusion behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ sind die Beauftragten der Auffassung, dass es neuer Anstrengungen, Impulse und Instrumente für die Erreichung eines inklusiven Arbeitsmarktes spätestens im Jahre 2030 bedarf und veröffentlichen daher die folgende Erklärung:
Inklusives Arbeits- und Sozialrecht
Die Beauftragten
- erkennen an, dass Bund, Länder und Kommunen in den letzten Jahren mit neuen rechtlichen Rahmenbedingungen wie dem Bundesteilhabegesetz und dem Teilhabestärkungsgesetz und Instrumenten wie dem Budget für Arbeit und dem Budget für Ausbildung Voraussetzungen für mehr Übergänge von Förderschulen oder Werkstätten für behinderte Menschen in Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geschaffen haben. Diese haben dennoch nicht zu nennenswerten Steigerungsraten bei der Ausbildung und Beschäftigung des anspruchsberechtigten Personenkreises auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geführt,
- erwarten insbesondere von der Bundesagentur für Arbeit, im Hinblick auf Artikel 27 UN-Behindertenrechtskonvention im Übergangsbereich Schule-Beruf alle Fördermöglichkeiten zu nutzen, um deutlich stärker in Richtung allgemeiner Arbeitsmarkt zu steuern,
- erwarten von den Kommunalen Jobcentern, dass sie ihre Möglichkeiten zur Gewährung von Rehabilitationsleistungen ausschöpfen und eigene Initiativen entwickeln, um den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern,
- sprechen sich dafür aus, dass das Arbeitsrecht spätestens ab 2030 einheitlich für alle Beschäftigungsverhältnisse gilt, wobei die Schutzrechte für Menschen, die besonders betroffen sind oder deren Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf besondere Schwierigkeiten (§§ 155 Absatz 1 Nr.1, 215 Absatz 2 SGB IX) trifft, gewährleistet werden,
- sehen die Notwendigkeit, dass das Sozialrecht mit Blick auf die Schaffung eines inklusiven Arbeitsrechts 2030
- mit dem Ziel überprüft wird, die Unterstützung im Arbeitsleben nicht mehr nach Art und Zuständigkeit vom Status der Erwerbsfähigkeit bzw. -minderung abhängig zu machen,
- die bestandssichernde Gewährung von Rentenanwartschaften für bestimmte Personenkreise gewährleistet wird,
- die Arbeit der Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber evaluiert und notwendige Änderungen zeitnah vornimmt,
- die finanzielle Unterstützung für den behinderungsbedingten Mehraufwand von Unternehmen bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen deutlich ausbaut und endlich zeitnah gewährt,
- fordern Bund, Länder und Kommunen auf, die vorgenannten Reformüberlegungen gemeinsam mit den betroffenen Menschen und deren Verbänden in partizipativer Weise anzugehen und darüber hinaus kurzfristig
- die Neueinstellung von Personen mit Schwerbehinderung im Bundes-, Landes und Kommunaldienst deutlich zu erhöhen und mindestens eine Quote von sechs Prozent zu erreichen,
- Schwach- und Hemmstellen beim Budget für Arbeit (etwa in Bezug auf Rentenansprüche) zu beheben,
- die Auszahlung von existenzsichernden und lohnsubventionierenden Leistungen aus einer Hand und bevorzugt über Werkstätten und andere Leistungsanbieter zu ermöglichen,
- die Anrechnung von in Werkstätten für behinderte Menschen erzieltem Lohn auf die Grundsicherung (§ 82 Absatz 3 SGB XII) aufzuheben,
- die begleitende Hilfe im Arbeitsleben durch die Integrationsämter generell und nicht nur in Inklusionsbetrieben ab einem Beschäftigungsumfang von 12 Wochenstunden (§ 185 Absatz 2 Satz 4 SGB IX) zu gewähren,
- die Anrechnungsmöglichkeit für Aufträge an Werkstätten für behinderte Menschen nach § 223 SGB IX auf Inklusionsbetriebe und andere Leistungsanbieter nach § 60 SGB IX auszudehnen,
- die steuerliche Absetzbarkeit der Ausgleichsabgabe als Betriebsausgabe abzuschaffen.
Inklusionsbetriebe
Die Beauftragten
- bekräftigen, dass Inklusionsbetriebe als Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes ein wichtiger Baustein einer gelebten und erfolgreichen inklusiven Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen sind,
- sehen Inklusionsbetriebe spätestens ab 2030 als wichtigen Ort der betrieblichen Ausbildung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt an, insbesondere wenn es sich um besonders betroffene Menschen oder Menschen handelt, deren Beschäftigung auf besondere Schwierigkeiten trifft,
- erwarten von Inklusionsbetrieben und ihren Interessenvertretungen, dass sie bis spätestens 2025 gemeinsam mit den unter 3. genannten Akteuren ein Konzept mit konkreten Schritten erarbeiten, um die Inklusionsbetriebe zu wichtigen Orten der betrieblichen Ausbildung und Beschäftigung von Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu entwickeln,
- fordern alle Arbeitgeber auf, durch die Einrichtung von Arbeitsplätzen mehr Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen zu schaffen und mindestens die Beschäftigungspflichtquote zu erfüllen,
- fordern Bund, Länder und Kommunen auf, unter Berücksichtigung des vorgenannten Konzeptes und unter Einbeziehung der Monitoringstelle für die UN-Behindertenrechtskonvention und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation in partizipativer Weise die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für einen inklusiven Arbeitsmarkt bis 2030 zu schaffen,
- fordern öffentliche Arbeitgeber auf, die bestehenden Möglichkeiten nach § 224 SGB IX zur bevorzugten Vergabe öffentlicher Aufträge an Inklusionsbetriebe stärker zu nutzen (z.B. § 8 Abs. 4 Nr. 16 lit. a) Unterschwellenvergabeordnung – UVgO)
Werkstätten für behinderte Menschen
Die Beauftragten
- nehmen wahr, dass Werkstätten für behinderte Menschen für viele dort Arbeitende Orte der Wertschätzung und Gemeinschaft sowie der Teilhabe am Arbeitsleben bedeuten; diese Funktionen wollen wir bei einer Transformation der Werkstätten in einen inklusiven Arbeitsmarkt erhalten wissen,
- erkennen und kritisieren, dass der Auftrag der Werkstätten aus § 219 SGB IX, den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern, bei einer Übertrittsquote von unter einem Prozent seit Jahrzehnten zu selten gelingt und deshalb als weitestgehend gescheitert angesehen wird,
- weisen darauf hin, dass ein inklusiver Arbeitsmarkt gemäß Artikel 27 UN-Behindertenrechtskonvention über die Beschäftigung in einer Werkstatt in ihrer heutigen Form als Einrichtung nur für Menschen mit Behinderungen und auch aufgrund des in sich konkurrierenden Dreifachmandates von Rehabilitation, Inklusion bei gleichzeitigem Wirtschaftlichkeitsauftrag nicht erreichbar ist,
- erwarten von den Trägern der Werkstätten, dass sie bis spätestens 2025 gemeinsam mit Werkstatträten, Selbstvertretungsverbänden, Inklusionsbetrieben, Kammern, Trägern der beruflichen Bildung und Rehabilitation, Integrationsfachdiensten, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, Kostenträgern und politischen Akteuren ein Konzept mit konkreten Schritten zum schrittweisen Wandel der Werkstätten erarbeiten. Die Werkstätten werden damit insbesondere zu Trainings-, Vorbereitungs- und Dienstleistungszentren für die im Anschluss auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stattfindende berufliche Ausbildung und Beschäftigung -dabei soll an die geplante Entgeltreform für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten und deren Verbesserungen der Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angeknüpft werden,
- fordern Bund, Länder und Kommunen auf, unter Berücksichtigung des vorgenannten Konzeptes und unter Einbeziehung der Monitoringstelle für die UN-Behindertenrechtskonvention und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation in partizipativer Weise die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für einen inklusiven Arbeitsmarkt bis 2030 zu schaffen, in dem Werkstätten insbesondere Orte des Übergangs von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt sind.
Erfurt, den 4. November 2022