16 Landesbeauftragte und der Bundesbeauftragte stehen und sitzen in zwei Reihen hintereinander vor einem Gebäude.

15 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention: Endlich konsequente Umsetzung!

Auf ihrem 67. Treffen am 11. und 12. April 2024 in Stuttgart haben die Konferenz der Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen und die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) die „Stuttgarter Erklärung“ verabschiedet. In dieser fordern sie eine konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Lesen Sie nachfolgend die gesamte Erklärung.

Präambel

Die Beauftragten des Bundes und der Länder für die Belange von Menschen mit Behinderungen setzen sich für eine konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland ein.

Während ihres 67. Treffens am 11. und 12. April 2024 in Stuttgart haben sich die Beauftragten mit den abschließenden Bemerkungen zur 2. und 3. Staatenprüfung Deutschlands vor dem UN-Fachausschuss in Genf befasst. Insgesamt ist festzustellen, dass Deutschland 15 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK bei der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen nach wie vor deutlich hinter seinen Zielen und Möglichkeiten bleibt.

Die Beauftragten des Bundes und der Länder fordern von Bund, Ländern und Kommunen die zielgerichtete und ergebnissichere Umsetzung der UN-BRK mit klaren zeitlichen Vorgaben unter Beachtung der Empfehlungen des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Zu den in der Staatenprüfung zentral behandelten Themen Arbeit, Bildung sowie Gesundheit und Pflege verweisen die Beauftragten auf ihre Positionspapiere, speziell die Erfurter Erklärung für einen inklusiven ArbeitsmarktÖffnet sich in einem neuen Fenster vom November 2022, das Positionspapier zur inklusiven schulischen BildungÖffnet sich in einem neuen Fenster vom Dezember 2022 sowie die Bad Nauheimer Erklärung zur inklusiven Gesundheit und PflegeÖffnet sich in einem neuen Fenster vom Mai 2023 und bekräftigen diese ausdrücklich.

In Stuttgart haben sich die Beauftragten daher folgenden Themen gewidmet:

1. Recht auf selbstbestimmte Lebensführung (Art. 19 UN-BRK)

Es fehlt an barrierefreiem und uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbarem Wohnraum. Fast die Hälfte aller Menschen mit Behinderungen in Deutschland, die Leistungen zum Wohnen beziehen, leben in Sondereinrichtungen. Die UN-BRK verpflichtet dazu, diese konventionskonform umzugestalten und Unterstützung personenzentriert und ambulant bereitzustellen. Ein notwendiger systemischer Wandel zu dezentralen, individuellen Wohnformen, insbesondere für Menschen mit hohem Assistenzbedarf, sowie ein ausreichendes Angebot an barrierefreiem Wohnraum fehlen.

Die Beauftragten

  • stellen fest, dass 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK Menschen mit Behinderungen ihr Recht, selbst entscheiden zu können, wie, wo und mit wem sie leben wollen, nicht annähernd uneingeschränkt umsetzen können.
  • fordern daher Bund, Länder und Kommunen auf, einen zielgerichteten Prozess zur Deinstitutionalisierung auf Grundlage der Leitlinien zur Deinstitutionalisierung (CRPD/C/5) des UN-FachausschussesÖffnet sich in einem neuen Fenster bis 2025 anzustoßen. Ziel ist es, dass alle Menschen, unabhängig von Art und Schwere der Behinderungen, entscheiden können, wie, wo und mit wem sie leben wollen. Dazu sind ihre Autonomie und Wahlfreiheit zu gewährleisten. Voraussetzung ist, dass diese Strategie umfassend und von Beginn an gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen und deren Verbänden in partizipativer Weise gestaltet wird.
  • erwarten von den Ländern, Leistungsträgern und den Leistungserbringern, dass dieser Prozess bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) beachtet wird. Das selbstbestimmte Leben muss das Ziel der Landesrahmenverträge (§ 131 SGB IX), jedes Gesamt- und Teilhabeplanverfahrens sowie der Qualitätskontrollen und Wirkungsprüfungen sein.
  • fordern Länder und Leistungsträger auf, den Ressourceneinsatz konventionskonform zu steuern und in den Prozess der Deinstitutionalisierung zu investieren, indem u.a. individuelle Assistenzangebote und -anbieter gemeindenah im Sozialraum auf- und ausgebaut werden mit dem Ziel, Wahlfreiheit für Leistungsberechtigte zu garantieren. Eine Verbesserung der Bezahlung von in Arbeitgebermodellen beschäftigten Assistenzkräften muss geschaffen werden.
  • fordern die Länder auf, in den Landesbauordnungen die uneingeschränkte Barrierefreiheit im Neubau, baurechtliche Regelungen für uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbaren Wohnraum und verpflichtende barrierefreie Lösungen für Bestandsgebäude festzulegen. Im Übrigen sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Ausnahmeregelungen sollten sich auf selbstgenutztes Eigentum beschränken.
  • erwarten, dass Länder und Kommunen dem tatsächlichen Bedarf entsprechend sozialen, barrierefreien und bezahlbaren Wohnraum schaffen. Ergänzend sollen Bundes- und Landes-Förderprogramme zum entsprechenden Umbau vorhandenen Wohnraums aufgelegt werden. Die Einrichtung einer Fachstelle für barrierefreies Planen und Bauen in den Ländern wird gefordert.
  • appellieren, dass rasch gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um den Personal- und Fachkräftemangel in der Eingliederungshilfe, der Pflege und im häuslichen Umfeld zu beseitigen und die Arbeitsbedingungen attraktiv zu gestalten. 

Ziel ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, die allen Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben garantieren, unabhängig von ihrer Beeinträchtigung.

2. Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, Schutz vor Gewalt und Missbrauch (Art. 14, 16, 17 UN-BRK)

Die Prävalenz von Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen, insbesondere gegen Frauen und Mädchen, ist besorgniserregend. Die UN-BRK regelt den Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung. Sie verpflichtet dazu, Maßnahmen zur barrierefreien Prävention, Intervention, Unterstützung und Aufarbeitung zu ergreifen.

Die Beauftragten

  • erkennen an, dass in den letzten Jahren verstärkt der Fokus auf den Gewaltschutz gelegt worden ist. Allerdings ist der Schutz noch immer lückenhaft und unzureichend.
  • fordern von Bund und Ländern eine ressortübergreifende, praxisgerechte und wirksame Gewaltschutzstrategie für Menschen mit Behinderungen unter Einbezug der Istanbul-Konvention. Der Schutz muss intersektional gewährleistet sein. Lücken im Gewaltschutz, insbesondere in der eigenen Häuslichkeit, müssen identifiziert und Lösungen zeitnah erarbeitet werden. Die Strategie muss umfassend und gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen und deren Verbänden in partizipativer Weise von Beginn an gestaltet sein.
  • fordern den Bund auf, das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) dahingehend zu reformieren, dass es auch Menschen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe schützt.
  • fordern den Bund auf, §37a SGB IX zu konkretisieren und Qualitäts- bzw. Mindeststandards auch als Leistungsmerkmal im Vertragsrecht der Eingliederungshilfe zu verankern.
  • fordern Länder und Eingliederungshilfeträger auf, den Gewaltschutz als Qualitätsmerkmal verbindlich in den Landesrahmenverträgen zum SGB IX (§ 131 SGB IX) mit den Vereinigungen der Leistungserbringer und von Beginn an partizipativ, d.h. mit den Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen, zu verankern. Zudem werden bei Nichteinhaltung seitens der Leistungserbringer Sanktionsregelungen benötigt.
  • fordern die Länder auf, unabhängige Überwachungs- und Beschwerdestellen einzurichten.
  • fordern umfassend barrierefreie Schutz-, Beratungs- und Hilfesysteme für alle Geschlechter, insbesondere Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen, einschließlich der Zugänge zu Polizei und Staatsanwaltschaft, Psycho- und Traumatherapien.
  • erwarten von Ländern und Kommunen, dass wirksame Präventionsmaßnahmen flächendeckend initiiert und finanziell gefördert werden. Dies sind zum Beispiel barrierefreie Informationen und geschlechterdifferenzierte Selbstverteidigungs- und Empowermentkurse.
  • fordern, ergänzend zu Frauenbeauftragten in Werkstätten auch das Amt der Frauenbeauftragten in Wohneinrichtungen mit gleichen Rechten zu etablieren. Landesarbeitsgemeinschaften für Frauenbeauftragte sind in den Ländern zu gründen und finanziell angemessen auszustatten.

Ziel ist es, Lücken im Gewaltschutz für Menschen mit Behinderungen zu schließen und ein Leben frei von Gewalt sicherzustellen (Handlungsempfehlungen Schutz vor Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit BehinderungenÖffnet sich in einem neuen Fenster).

3. Ablehnung von Zwang (Artikel 12, 14, 15, 16 UN-BRK)

Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit psychosozialen Beeinträchtigungen und hohem Assistenzbedarf, sind in höherem Maße verschiedenen Formen von Zwang ausgesetzt. Dies sind z.B. unfreiwillige Behandlungen oder Unterbringungen sowie freiheitsentziehende Maßnahmen, die erhebliche Eingriffe in die körperliche und seelische Unversehrtheit sowie in die Autonomie eines Menschen darstellen. Die UN-BRK verpflichtet dazu, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt vor erniedrigender, unmenschlicher oder grausamer Behandlung oder Strafe zu schützen. Der UN-Fachausschuss spricht sich für ein absolutes Verbot von Zwangsmaßnahmen aus.

Die Beauftragten

  • erwarten, dass Zwangsmaßnahmen auf Grund von Behinderungen oder psychiatrischen Diagnosen in Psychiatrie, Eingliederungshilfe, Pflege- und Rehaeinrichtungen sowie in der Kinder- und Jugendhilfe verhindert werden. Dennoch stattfindende Zwangsmaßnahmen müssen dokumentiert und durch eine unabhängige Stelle evaluiert werden. Die Gesetze, die die Anwendung von Zwang und Freiheitsentzug vorsehen, müssen in Einklang mit den menschenrechtlich basierten Bestimmungen der UN-BRK gebracht werden.
  • fordern die Gesetzgeber auf, Zwangsmaßnahmen in ambulanten Settings oder Einrichtungen (sog. Ambulante Behandlungsweisung) weiterhin nicht zuzulassen und lehnen eine Ausweitung von Zwangsmaßnahmen auf den teilstationären Klinikbereich (zum Beispiel Tagesklinik) ab.
  • fordern eine systematische Weiterentwicklung von auf Freiwilligkeit beruhenden Behandlungsformen und Unterstützungsleistungen sowie weitere Strategien zur Zwangsvermeidung. Erkenntnisse aus Pilotprojekten müssen systematisch ausgewertet werden und Eingang in die regelhafte Praxis finden.
  • erwarten von Bund, Ländern und Kommunen den flächendeckenden Ausbau und die Förderung von peer-geleiteten Krisenhäusern und ambulanten Unterstützungsangeboten sowie niederschwelligen Beratungsstellen.
  • fordern ein bundesweites Monitoring zur Freiheitsentziehung und Anwendung von Zwang, das umfassend und gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen und deren Verbänden in partizipativer Weise von Beginn an gestaltet wird.

Ziel ist, dass Menschen mit Behinderungen und alle Menschen in psychischen Krisen und Ausnahmezuständen in unserer Gesellschaft frei von Zwang leben.

4. Partizipation auf allen staatlichen Ebenen (Art. 4, 33 UN-BRK)

Die UN-BRK enthält die ausdrückliche Verpflichtung, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Selbstvertretungsorganisationen an den politischen Vorhaben und Entscheidungen partizipieren. Allerdings ist die Umsetzung in der Verwaltungspraxis und Gesetzgebung unzulänglich.

Die Beauftragten

  • erwarten von Bund, Ländern und Kommunen die konsequente und flächendeckende Umsetzung des Partizipationsgebots. Menschen mit Behinderungen bzw. ihre Selbstvertretungsorganisationen müssen an politischen Entscheidungsprozessen in allen Bereichen verbindlich von Beginn an beteiligt werden.
  • fordern Bund und Länder auf, im Sinne eines Disability Mainstreaming eine umfassende Normenprüfung vorzunehmen und das bestehende und zukünftige Recht am Maßstab der UN-BRK auszurichten, um Diskriminierungen und Barrieren zu identifizieren und Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu beheben.
  • fordern von Bund, Ländern und Kommunen, Partizipation verbindlich zu regeln sowie Beteiligungsstandards und Rahmenbedingungen partizipativ zu entwickeln und einzuhalten. Dabei sind insbesondere folgende Punkte zu beachten:
    • alle Beteiligungsverfahren müssen transparent und zugänglich sein,
    • alle Phasen von Beteiligungsprozessen müssen vollumfänglich barrierefrei sein,
    • Hilfsmittel und Assistenzen müssen zur Verfügung stehen und finanziert werden,
    • die Beteiligung muss von Anfang an erfolgen. Politische Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren aller Ressorts müssen entsprechend gestaltet sein.
  • fordern die Beteiligung von Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen, auch bei Rechtsvorschriften und (gesellschafts-) politischen Konzepten sowie Förderprogrammen.

Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderungen bzw. ihre Selbstvertretungsorganisationen ihre Belange selbst einbringen. Die Grundvoraussetzung für Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe ist die konsequente Partizipation von Menschen mit Behinderungen und ihren Selbstvertretungsorganisationen.

Stuttgart, 12. April 2024